Irgendwann im Februar kommt in Istanbul immer ein ganz bestimmter Tag, an dem mit einem Mal der Winter weg ist.
Es riecht ganz anders, wenn man morgens vor die Tür tritt, um beim Krämerladen ein frisches Brot zu holen, alles leuchtet in frischen Farben: die Lebensgeister sind zurück. Meine Nachbarn, die ich morgens beim Brot holen treffe, sagen an diesem Morgen jedes Jahr: bugün cemre düştü. Heute ist die cemre heruntergekommen. Verwundert frage ich, was es denn damit auf sich habe. Während ich beim Krämerladen auf das Brot warte, klappert der Milchmann mit seiner Stimme wie Tom Waits mit seinen Kannen und siebt die Milch, mit seiner starken Samsun-Zigarette im Mundwinkel. Nie habe ich die Asche in die Milch fallen sehen. Die cemre kommt zuerst in die Lüfte, dann in die Gewässer und dann in die Erde, jeweils im Abstand von sieben Tagen, erklärt mir der Milchmann. Dann ist Frühling.
Auch der türkische Wetterbericht spricht an diesem bestimmten Tag im Februar jedes Jahr von cemre, es scheint sich nicht um die individuelle Erfahrung meiner Nachbarn, sondern um ein sehr altes meteorologisches Wissen zu handeln. Doch wer oder was ist cemre? Volkskundlern zufolge handelt es sich dabei um ein geheimnisvolles, mythisches Wesen, das es bei den Turkvölkern gibt, in manchen Gegenden Zentralasiens wird es imre oder emire genannt, auf dem Balkan sagt man dazu zemire. Ein Geisterwesen, welches den Frühling einleutet und sich aus den Lüften auf die Erde begibt. Man könne cemre sehen in den aufsteigenden, tanzenden Lichtern in der Dämmerung, wird in manchen Regionen gesagt. Oder im lauwarmen Tau, der sich über die Pflanzen legt. Auf arabisch wiederum heisst cemre „Wärme“ oder „Glühen“, und so müssen auch diejenigen, die nicht an einen Geist glauben wollen, die Existenz von cemre nicht bestreiten. Cemre ist auch ein türkischer Vorname, den man mit „Vorfreude auf den Frühling“ übersetzen kann.
Interessanterweise haben türkische Metereologen anhand von Temperaturtabellen der letzten 60 Jahre festgestellt, dass die Temperaturerwärmung im Februar tatsächlich jedes Jahr in genau drei Schüben im Abstand von jeweils ungefähr sieben Tagen geschieht. Zuerst erwärmen sich die Lüfte, dann schmelzen die Gewässer, dann erwärmt sich die Erde. Wann kommt cemre wohl dieses Jahr? Es dauert bestimmt nicht mehr lang. Freuen Sie sich auf einen zauberhaften Frühling in Istanbul..
Gastbeitrag von Esther V.